Gerhard Traetz: Grünas letzter Bürgermeister

Gerhard Traetz: Grünas letzter Bürgermeister


Am 26. Juli 2001, vor 20 Jahren also, hatte er seinen letzten Arbeitstag im Rathaus Grüna, und vor 10 Jahren am 26. August ist Gerhard Traetz im Alter von 77 Jahren verstorben. Das sollte Anlass sein, sich eines verdienstvollen (und bei manchen auch umstrittenen) Mannes zu erinnern, der über elf Umbruch- und Blütejahre unser gewählter Bürgermeister war.

Das Bauwesen, ob Hoch- oder Tiefbau, ist Gerhards Leidenschaft von der Pike auf. Er lernt Maurer beim bekannten Grünaer Baumeister Ewald Schreiter (landwärtiger Nachbar des heutigen Simmelmarktes) und arbeitet ab 1959 beim Karl-Marx-Städter Wohnungsbaukombinat als Meister, später Baumeister. Die 1963 eröffnete Küchwaldbühne gestaltet er mit und ist unter anderem Bauleiter des 45 Meter hohen „Sporthochhauses“ im Stadtzentrum. Mit politischen Parteien hat er nix am Hut.

Die Aufbruchstimmung der „Wende“ bringt in Grüna besonders tatkräftige Akteure hervor. Bei einem Einwohnerforum am 22. Februar 1990 in der Grünaer Kirche äußert Gerhard Traetz seine Gedanken und Vorstellungen als Baufachmann zur Entwicklung der Gemeinde, und er ist bereit, dabei aktiv mitzuwirken. Am 8. März wird (nach einer Initiative von Gunter Bernstein) die „Freie Wahlgemeinschaft Grüna“ gegründet, mit Klaus Büttner als Vorsitzendem und Gerhard Traetz als seinem Stellvertreter. Deren Programm für „Kommunalpolitik ohne Parteibrille“ überzeugt, und in der Wahl am 6. Mai 1990 erhalten (bei 86 % Wahlbeteiligung) die Freien Wähler 45% der Stimmen; davon 1378 allein für Gerhard Traetz – mehr hat nur Dr. Fritz Hähle (CDU) mit 1907 Stimmen. Letzterer wird zum Gemeindevertreter-Vorsteher gewählt, und Traetz zum hauptamtlichen Bürgermeister – ohne zu wissen, mit welchem Gehalt. Seine Stelle beim Bau gibt er auf, für Grüna.

Am 31. Mai 1990 tritt er seinen Dienst im Rathaus an, auf seinem Schreibtisch ein Zettel: "Überprüfung und Bestandsaufnahme der Gemeindeverwaltung". Immense Aufgaben liegen vor dem neuen Gemeinderat, dem Bürgermeister und der Verwaltung. Alles ist neu, und alles ist im Umbruch. Was gestern richtig war, gilt heute nicht mehr, und was heute unmöglich scheint, könnte morgen gelingen – wenn man es denn kreativ und rasch anpackt in dieser „gesetzlosen Zeit“. Ein Hauptfeld der Ortsentwicklung ist der Bau, und dafür ist Gerhard Traetz genau der richtige Mann. Diplomat ist er nicht.

Seine Arbeit ist geprägt durch schnelles Handeln und Sachkenntnis, Durchsetzungsvermögen bei Ämtern und Behörden, aber auch Übernahme von Selbstverantwortung. Zielstrebig, mit guten Gedanken und ohne Schonung von Person und Gesundheit gehen der Bürgermeister und seine engsten Mitstreiter die Aufgaben an. Dabei sind zwölf Stunden Arbeitszeit normal, und 15 oder 18 Stunden keine Seltenheit. Für Grüna gilt: 1. Arbeit schaffen (Gewerbegebiet), 2. Wohnungen bauen (Hexenberg), 3. Kultur entwickeln (Folklorehof). Dazu Sanierung von Straßen und Versorgungsleitungen, Neubau des Abwassersystems, und, und, und ... Dabei aber nicht die Finanzen aus dem Auge verlieren! Die Grundsteinlegung für das Gewerbegebiet Wiesenmühle (das erste im Landkreis!) erfolgt am 24.8.91 (Foto) ohne Bebauungsplan – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Doch mit dieser Arbeitsweise ist Grüna vielen anderen Gemeinden ein Stück voraus, vor allem der Chemnitzer Bürokratie mit ihrem Parteienstreit.


Es werden die Blütejahre der Gemeinde Grüna, und der große Nachbar wirft bereits ein begehrliches Auge auf den entstehenden „Speckgürtel“. Schon im April 1992 verabschieden die Freien Wähler eine „Resolution gegen die Eingemeindung von Grüna zur Stadt Chemnitz“. Doch noch fühlt man sich sicher.

Traetz arbeitet für Grüna „wie ein Ochse“ – und dafür verlangt er rasche Akzeptanz seiner Entscheidungen. Der Weg über Gemeindegremien ist ihm manchmal zu lang und hinderlich, sodass es zunehmend Reibereien gibt. Nach einer harten Auseinandersetzung über eine eigenmächtige Grundstücksentscheidung verlässt er die Freien Wähler, auch um als Bürgermeister fraktionsunabhängig in seinen Entscheidungen zu sein. Ungeachtet dessen erfahren die Ergebnisse seiner Arbeit große Anerkennung, und 1994 wird er (bei einem Gegenkandidaten und direkt von den Einwohnern) mit großer Mehrheit für sieben Jahre wiedergewählt. Was vielleicht nur Wenigen auffällt: In seinem Wahlwerbe-Flyer dankt er Bürgern und der Gemeindeverwaltung – die Gemeinderäte erwähnt er nicht.

Am 17.11.1992 beginnt der Bau des Grünaer Abwasserkanals; für Gerhard Traetz Zentralaufgabe bis zu seinem letzten Arbeitstag. 1995 stehen 22 Turmdrehkräne gleichzeitig im Wohnbaugebiet „Hexenberg“. Auch die soziale Seite wird nicht vergessen: sozialer Wohnungsbau mit gemeindeeigenen Häusern, Stützung von Kitaplätzen und Schüleressen, Begrüßungsgeld für Neugeborene, Verzicht auf Abwasserbeiträge ... Die Einwohnerzahl steigt von 4.436 (Ende 1992) auf 6.104 (Ende 1998).


Oktober 1995: Erste Sitzung des Gemeinderats im neuen Ratssaal

Die Liste der Grünaer Erfolge ist lang, und natürlich ist das alles nicht allein, aber wohl in hohem Maße dem engagierten Bürgermeister zu verdanken. Doch die Liste ist zu lang – für die Neider. Das schwärzeste Kapitel der Gemeindegeschichte nimmt seinen Lauf.

Als Anfang 1996 die Pläne aus Dresden zur Gemeindegebietsreform bekannt werden, mit einem „Gutachten“ voller Fehler und Ungereimtheiten, glaubt Gerhard Traetz noch, dass man diesem Unsinn mit gesundem Menschenverstand, mit überzeugenden Sachargumenten und Kompromissvorschlägen begegnen kann. Doch die anfängliche Gesprächsbereitschaft des Innenministers wird bald durchschaut: Hinhaltetaktik. Alles ist längst beschlossene Sache.

März 1997: In einer Bürgeranhörung sprechen sich 96 % der Einwohner Grünas und Mittelbachs gegen eine Eingemeindung nach Chemnitz und für die Bildung einer Einheitsgemeinde aus. Sie liefern viele Argumente, warum das Eingliederungsgesetz falsch ist. Dresden interessiert das nicht.


22.12.1997: Gemeinsame Sitzung der Gemeinderäte Grünas und Mittelbachs

20. Mai 1998: Der Landrat des Landkreises Chemnitzer Land erteilt die „rechtsaufsichtsbehördliche Genehmigung“ zum Zusammenschluss der Gemeinden Grüna und Mittelbach zur Einheitsgemeinde – die ohne Unterschrift aus Dresden allerdings wertlos ist. 1. Juli 1998: Sternmarsch von Mittelbach und dem Ober- und Unterdorf Grüna zum Rathaus Grüna mit anschließender Protestkundgebung.

22. Juli 1998: Autokorso zum Sächsischen Landtag nach Dresden, um gegen die Verabschiedung des Gesetzes zur Zwangseingemeindung zu protestieren. Die Fahrzeugschlange mit Polizeieskorte ist beeindruckend – leider nicht für die Abgeordneten.

Die Gemeinden Grüna und Mittelbach beauftragen einen vermeintlich renommierten Anwalt für Kommunalrecht, um beim Sächsischen Verfassungsgericht Klage gegen ihre Zwangseingemeindung einzureichen. Die Klage wird am 23.9.99 „verworfen“, doch die Betroffenen erfahren das erst am 30.9. aus der Zeitung – eine doppelte Demütigung. Traetz spricht von Ignoranz und Arroganz in Dresden.

Schon vorher, am 13. Juni, war Kommunalwahl, und anstelle eines Gemeinderates war nun „bloß“ ein Ortschaftsrat zu wählen. Bereits zu Beginn des Jahres war der Gemeinderat per Gesetz zum Ortschaftsrat und der Bürgermeister zum Ortsvorsteher degradiert worden. Traetz‘ hauptamtlicher Arbeitsvertrag ist davon jedoch nicht berührt, und so macht er weiter, um in dieser Situation noch das Beste für Grüna herauszuholen. Bis zuletzt verschafft er sich in der Stadt Respekt und sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Er lässt nicht nach, die Ungerechtigkeit und Widersprüchlichkeit der Zwangseingemeindung anzuprangern – zugleich entwickelt er ein sachlich-kollegiales Verhältnis zum Chemnitzer OB Dr. Seifert.

Am 25. Juni 2001 leitet er als Ortsvorsteher seine letzte Ratssitzung, Hauptthema: Kanalbau. Nach der Wahl seines ehrenamtlichen Nachfolgers Walter Bunzel wird Gerhard Traetz durch Schulkinder und Bürger mit Liedern, Blumen und vielen Dankesworten in den Ruhestand verabschiedet.

Heute ist in Grüna überall zu sehen, was in diesen bewegten „90ern“ im Ort geschaffen wurde. Im wahrsten Sinne herausragendes Symbol ist unser Aussichtsturm auf dem Totenstein. Gerhard Traetz schrieb dazu im Gemeindeblatt Oktober 1997:


Dass dieser Bau noch gelang, war zum großen Teil der Schlitzohrigkeit des Grünaer Bürgermeisters zu verdanken, der es trotz (im Hinblick auf die bevorstehende Eingemeindung) bereits bestehender Haushaltskontrolle schaffte, die über 300 TDM (alles aus der Gemeindekasse) lieber in den Turm zu stecken als ins Chemnitzer Stadtsäckel. Die Einweihung war am 4. Oktober 1998, exakt 112 Jahre nach der Weihe des alten, 1953 abgerissenen Turmes. Wie sein Vorgänger erhielt er den Namen „Maria Josepha“.


Mitte Mai 2000 schauten die Turmbesucher nicht schlecht, als sie den großen Schriftzug entdeckten: „Bürgermeister-Traetz-Turm Grüna“. Ortsvorsteher Traetz bedankte sich im Ortsblatt für diese „unerwartete Ehrung als ein Zeichen des Dankes und der Erinnerung an dieses kommunale Geschenk für die Bürger von Grüna und Umgebung“. Die Stadtverwaltung war nicht erfreut, doch der anonyme Einzeltäter blieb viele Jahre unerkannt.

Viel gäbe es aus diesen bewegten Zeiten noch zu berichten; der Umfang mehrerer Ortschaftsanzeiger würde dafür nicht reichen. (Glücklich, wer die alten Gemeindeblätter aufgehoben hat – und wer nicht, kann beim Heimatverein Grüna nachfragen.) Und ohne die Leistungen der vielen Beteiligten zu schmälern, darf man wohl mit Recht feststellen: Ohne die Tatkraft, Sachkenntnis und Entscheidungsfreude seines Bürgermeisters und der ideenreichen Mitwirkung der Gemeinderäte wäre Grüna in den 1990ern nicht so weit vorangekommen.

Nun werden wir aus dem Chemnitzer Rathaus regiert, so lange schon, dass es mancher gar nicht anders kennt. Das Entwicklungstempo hat sich dem städtischen Schrittmaß angeglichen.

So ist das Leben!“, würde Gerhard Traetz sagen. Bürgermeister, Grüna wird Dich nicht vergessen.

Fritz Stengel

Vielleicht schreiben Sie uns ja mal, liebe Leserinnen und Leser: Welche Erinnerungen verbinden Sie mit dieser Zeit und mit den damaligen Akteuren unserer beiden Orte? Und: Was halten Sie von einem „Bürgermeister-Traetz-Turm“? Zuschriften an die bekannte E-Mail-Adresse redaktion.oaz_at_gmail.com oder schriftlich an die Adresse des Heimatvereins Grüna in den Rathausbriefkasten.

Die Redaktion

Dieser Artikel stammt aus dem Ortschaftsanzeiger Grüna / Mittelbach August 2021

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