Im Gespräch: Walter Semmler

Im Gespräch mit: Walter Semmler


Als „typisch“ und „exemplarisch“ für seine Generation und viele Familien im 20. Jahrhundert sieht der inzwischen 91jährige seinen Lebensweg.

Sein Großvater und sein Vater waren überzeugte Sozialdemokraten. Bei seiner Einschulung 1926 wurden in Grüna drei Klassen gebildet: die weltliche (Projekt)Schule, die u.a. Rolf Frenzel besuchte und deren Lehrer 1933 aus dem Schuldienst entlassen wurden (siehe OAnzeiger 1/2011), eine Klasse mit dem Kantor als Klassenlehrer und eine Klasse, in der vom 1. bis 4. Schuljahr Fräulein Rehschuh und vom 5. bis zum 8. Schuljahr Herr Solbrig Klassenlehrer waren. „Von diesen und anderen Grünaer Lehrern habe ich eine optimale Bildung genossen“, ist Walter Semmler heute noch überzeugt, denn dies war wichtig für seinen Lebensweg.

Im 8. Schuljahr (1933/1934) meinten seine Lehrer: der muss Angestellter werden, der muss ins Rathaus. Der Antrag seines Vaters wurde vom Bürgermeister abgelehnt mit der Begründung, 1934 werde niemand ausgebildet. Stimmte nicht – der Sohn eines bekannten Nazis begann die Lehre. Die Erkenntnis: Wer aus einer sozialdemokratischen Familie stammt, durfte nicht ins Rathaus.

Walter Semmler lernte in einer Chemnitzer Nadelfabrik den kaufmännischen Beruf. Sein Lehrbetrieb gehörte ab 1937 zu einer gleichartigen Firma in Ebingen (jetzt Albstadt) auf der Schwäbischen Alb, wohin ihn sein neuer Chef mitnahm. Walter Semmler denkt gern an diese unbeschwerte Zeit zurück, mit beruflichen Erfolgen (u.a. 1. Platz im Berufswettkampf im Kreis Balingen) und vielen Wanderungen in der wunderschönen Landschaft.

Seinen eigentlichen Berufswunsch, Lehrer zu werden, hatte Walter Semmler noch nicht aufgegeben. Mit dem Volksschulabschluss war jedoch an ein Studium nicht zu denken. Der einzige Weg, die Hochschulreife nachzuholen, führte zu jener Zeit über das sogenannte „Langemarck-Studium“. Grünaer Lehrer mit Herrn Unger an der Spitze waren es, die sich dafür einsetzten. Walter Semmler wurde zur Aufnahmeprüfung nach Dresden eingeladen. Alles klappte gut bis zur Sportprüfung, wo er als Brillenträger beim Boxen schwer angeschlagen wurde. Dennoch gehörte er zu den vier Teilnehmern (von insgesamt 23 aus ganz Deutschland), die den Lehrgang bestanden. Doch mit dem Studium wurde nichts, ihm wurde gesagt, der Führer habe entschieden, dass Brillenträger nicht zugelassen werden. Seine Grünaer Lehrer waren sich sicher, er wurde nicht genommen, weil er aus einer sozialdemokratischen Familie stammt.

Walter Semmler war noch in Ebingen, als er zum Arbeitsdienst an den Oberrhein einberufen wurde. 1939 zu Kriegsbeginn wurde er sofort Soldat. 1941 hieß es dann marschieren mit der Artillerie von Warschau bis vor Moskau, wo er den Winter durchhalten musste. Auf dem Rückzug, als sie sich im Wald eingruben und Bunker bauten, ist es passiert: Während eines Artillerieangriffes der „Russen“ stürzte ein Balken auf sein Knie. „Die Verwundung war meine Rettung“, ist Walter Semmler bis heute überzeugt. Im Lazarett in Linz an der Donau die Diagnose: kampfunfähig. Aber keine Entlassung aus der Wehrmacht. In der Letzlinger Heide wurde er zum Geschützentwickler ausgebildet und musste dann von Truppenübungsplatz zu Truppenübungsplatz durch Deutschland und die besetzten Länder Europas reisen.

Am Niederrhein war Walter Semmler bei einer Luftlandung der Alliierten in englische Gefangenschaft geraten. Im Gefangenenlager bei Brüssel und danach in Hannover ging es erst hart und später relativ locker zu. Um Entlassungspapiere zu erhalten, fuhr er illegal nach Heidelberg. Dort, bei einer amerikanischen Dienststelle, gab er einen halbwahren Bericht über seine Flucht aus der Gefangenschaft und als Heimatadresse eine ihm befreundete Familie in Esslingen am Neckar an. (Eine Entlassung war nur in die amerikanische oder englische Besatzungszone möglich.) Natürlich wollte er mit seinem Entlassungsschein in seine richtige Heimat nach Grüna.

Doch an der Grenze zur sowjetischen Besatzungszone hieß es Stoi! Halt! Er wurde dem russischen Ortskommandanten vorgeführt und in einen Raum gesperrt, in dem schon 20 andere tagelang warteten. In dem Durcheinander gelang ihm bei Stillschweigen der anderen nachts die Flucht durch ein Fenster. Welches Glück für ihn und seine Familie, als er an seinem Geburtstag im September 1946 zu Hause eintraf.

Eigentlich sah Walter Semmler die Chancen für seine Zukunft in Hannover. Doch seine Eltern sagten ihm, Herr Wolf, der 1945 wieder als Lehrer eingestellt und zum Schuldirektor berufen worden war, wolle ihn sprechen. Dies war der entscheidende Moment, der seinem Leben eine ganz andere Richtung geben sollte. Direktor Wolf überzeugte ihn, dass dringend Lehrer gebraucht werden. Walter Semmler wurde zum Schulrat geladen, einem Wissenstest unterzogen und von einem zum anderen Tag als Neulehrer eingestellt. Damit begann ein neuer Lebensabschnitt in dem Dorf, nach dem er immer Heimweh gehabt hatte, in dem seine Eltern und seine Freunde aus der Kindheit und aus der Riege „Vorwärts“ wohnten.

In einem sozialdemokratischen Elternhaus aufgewachsen und mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert, war es für Walter Semmler nur logisch, Mitglied der geeinten Arbeiterpartei, der SED, zu werden, deren wichtigsten Ziele der Frieden und die Ausrottung der faschistischen Ideologie und damit der Wurzeln des Krieges waren. Noch in Hannover hatte er erfahren und erlebt, dass diejenigen wieder Positionen anstrebten und einnahmen, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten.

An den Schulen unterrichteten nach 1945 wieder erfahrene Lehrer, die 1933 von den Nazis entlassen worden waren und die neben dem Unterricht für die Kinder auch den vielen jungen Lehrern ohne pädagogische Ausbildung zur Seite standen. Dazu übervolle Klassen, denn viele Ausgebombte und Umsiedler lebten noch in der Gemeinde. (1945 hatte Grüna über 9000 Einwohner.) Die Neulehrer, nur wenige Jahre älter als ihre Schüler, mussten neben der Vorbereitung auf den Unterricht ihre eigene pädagogische Ausbildung meistern. Walter Semmler erinnert sich an stundenlange Diskussionen, die er besonders intensiv mit Dietmar Müller führte und bei denen es vor allem um grundsätzliche politische Haltungen und fachlich-pädagogische Fragen ging. Bis heute sind beide befreundet, Mittelbach ist ja gleich nebenan.

Walter Semmler unterrichtete bis 1949 in Grüna. Dann folgte er dem Auftrag des Kreistages und der Kreisleitung der Partei und wurde Schuldirektor in Pleißa, wo er von Eltern, Lehrern und Schülern geschätzt wurde.

Anfang der 50er Jahre galt in der DDR die Losung „Deutsche an einen Tisch“. Es war sogar gewollt, dass vertrauenswürdige Personen zu Gesprächen in die BRD reisten. Walter Semmler nutzte diese Möglichkeit zu einem Wiedersehen mit alten Bekannten in Hannover und Ebingen. Doch inzwischen war er hier in seiner Heimat mit Leib und Seele Lehrer.

Als 1952 der Direktor Wolf in Rente ging, wurde zunächst Walter Semmler sein Nachfolger. Er, der viel lieber Schulleiter bleiben wollte, ob in Pleißa oder Grüna, wurde jedoch im Mai 1953 zum Schulinspektor bestellt und Werner Samusch Schuldirektor in Grüna. Für Walter Semmler bedeutete die neue Aufgabe, mit dem Motorrad die Schulen des Kreises zu besuchen, im Unterricht zu hospitieren und die Lehrer zu beraten.

Nach dem Ausscheiden des stellvertretenden Kreisschulrates wurde Walter Semmler in diese zweithöchste Position der Abteilung Volksbildung eines Kreises berufen. „Kreisschulrat wollte ich nie werden, das ist ein reiner Verwaltungsmann, und die Methode ‚Augen zu und durch‘ wollte ich auch nicht mitmachen. Da war ich recht froh als mir nach dem Tod des Schulrates gesagt wurde: „Du kannst nicht Schulrat werden, du hast nicht die Fähigkeit, andere zu überzeugen.“ Zunächst wurde ihm die Personalverwaltung, später das Ressort Ökonomie übertragen.

„Für mich und meine Frau war Walter Semmler als stellvertretender Kreisschulrat Ansprechpartner als es darum ging, von Neubrandenburg wieder in Heimatnähe zu ziehen und hier zu arbeiten. Er hat uns geholfen“, weiß Bernd Hübler aus eigener Erfahrung. Auch der leider viel zu früh verstorbene Lothar Müller und andere Lehrer suchten und fanden Hilfe bei ihm.

Stolz erzählt Walter Semmler vom Erholungszentrum für Lehrer, Erzieher und technische Angestellte des Kreises in Baabe auf der Insel Rügen, das er initiiert, mit einer Reihe von Kollegen ohne Haushaltsmittel aufgebaut hatte und für das er verantwortlich war. Dort konnten bis zur Wende jährlich über 200 Familien, vorwiegend mit Kindern, erholsame Ferien erleben.

Für den Schulneubau in Grüna hat Walter Semmler seine Ortskenntnisse mit eingebracht, die Notwendigkeit betont. Zuständig war der Rat des Bezirkes.

1984 an seinem 65. Geburtstag wurde ihm das Entlassungsschreiben des Rates des Kreises, Abteilung Volksbildung, in die Wohnung gebracht. „Ich fühlte mich noch notwendig. Baabe hatte ich abgegeben, blieb aber im Kreisvorstand der Gewerkschaft bis zur Wendezeit. 1989 hatten wir viele Gedanken, was im Bildungswesen verändert werden sollte und musste. Die übertriebene Zentralisierung war falsch, alle Entscheidungen traf die Partei. Der Unterricht war bis in die Einzelheiten reglementiert. Pädagogische Freiräume gab es nur bei der Freizeitgestaltung – in Arbeitsgemeinschaften, bei der Feriengestaltung, an Wandertagen usw.“ Kritische Stimmen aus der Praxis wurden nicht gehört und oft nicht „nach oben“ gemeldet.

Sein persönliches Schreiben an das ZK der SED mit allen Hinweisen und Vorschlägen zur Verbesserung der Schul- und Gesamtsituation bewahrt Walter Semmler noch auf.

Er ist bei aller berechtigten Kritik am Schulwesen der DDR enttäuscht, dass nach der Wende nicht versucht wurde, Bewährtes zu übernehmen. Als besonders absurd findet er den Föderalismus, der auf Grund der Übernahme des Grundgesetzes der BRD auch bei uns gültig wurde. „Zuständig sind die Länder, so haben wir jetzt 16 voneinander abweichende Schulsysteme. Grundsätzlich wird viel Mobilität gefordert, also Umzüge auf Grund der Qualifikation oder neuer Arbeitsplätze. Die Kinder müssen mit umziehen und sehen oftmals dumm aus, weil andere Lehrbücher, andere Lerninhalte…“

Walter Semmler verfolgt interessiert das Zeitgeschehen. Dabei liegt ihm – wie könnte es anders sein – der Erhalt der Grund- und Mittelschulen in Chemnitz besonders am Herzen.

 

Für das Gespräch bedanken sich Bernd Hübler und Gerda Schaale bei Walter Semmler.

Glücklich verheiratet und inzwischen stolze Urgroßeltern: Gertraute und Walter Semmler. An der Universität Leipzig hatte Gertraute 1945 ein Chemiestudium begonnen, von dem sie aber wegen Überfüllung der Uni nach einigen Monaten zurückgestellt wurde. Für das zu überbrückende Semester holte sie Hans Riesner, damals stellvertretender Oberbürgermeister in Chemnitz, als Lehrerin an die Altchemnitzer Schule. Die Arbeit mit den Kindern machte ihr so viel Freude, dass sie sich entschied, auf die Wiederaufnahme des Studiums zu verzichten und im Lehrerberuf zu bleiben. Sie wurde auf ihren Wunsch an die Grünaer Schule versetzt und blieb dort bis zu ihrem gesundheitsbedingten Ausscheiden. Hier lernte sie ihren Kollegen Walter Semmler kennen, schätzen und lieben. Sie heirateten 1949, wurden ein gutes Lehrerpaar und sind ein gutes Eltern-, Großeltern-, Urgroßeltern- und Rentnerpaar, das auch altersbedingte gesundheitliche Probleme gemeinsam und mit Hilfe der Familien ihrer beiden Kinder meistert.

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